Sind 50 km Reichweite (gut) genug?

VW-Vorstandschef Herbert Diess war zu Gast in Steingarts Morning Briefing und wurde von Steingart zu seiner Strategie für die Elektromobilität befragt. Auf den ersten Blick sprach Herbert Diess extrem positiv und man hätte denken können, dass VW endlich die Zeichen der Zeit erkannt hat. Doch dann wird klar: VW hätte viel, viel mehr tun können.

Herbert Diess sagt, dass VW schon seit fünf Jahren an das E-Auto denkt, dass es die Zukunft und jetzt klar sei, dass alle anderen Antriebskonzepte nicht wirtschaftlich genug seien. Ich denke, super – VW bewegt sich doch. Aber dann fragt ihn Steingart nach den tollen neuen Modellen. Und die Antwort: Der neue eHybrid Tucan sei doch ein tolles Auto. Darauf meint Steingart erstaunt, der hätte doch nur 50 km Reichweite. Und jetzt falle ich vom Stuhl. Die Argumentation von Herbert Diess ist legendär: Eine Reichweite von 50 km wäre doch vollkommen ausreichend. Die Menschen würden in der Regel jeden Tag maximal 50 km zur Arbeit fahren und auf diese Weise wären sie dann C02-neutral, wenn sie das wollten. Für den Urlaub hätten sie dann doch den Verbrennungsantrieb. Das wäre insgesamt umweltfreundlicher und wirtschaftlicher als die teure Batterie eines Teslas.

Der Anspruch, ein E-Auto müsste mit der Reichweite von einem Dieselfahrzeug mithalten können, scheint passé zu sein. Irgendwie ergibt das ja Sinn: Ich kann etwas nicht, also sage ich öffentlich, dass das ohnehin nicht notwendig ist. Aber wenn wir dieser Logik folgen: Warum brauchen wir dann Verbrenner, die mehr als 50 km fahren? Die bewegen sich doch auch nur maximal 100 km am Tag, und Tankstellen gibt es überall für sie. Lasst uns doch kleine Autos bauen für den Weg zur Arbeit. Die bekommen kleine Tanks mit wenigen Litern. Aber warum wird dann der Golf mit jeder neuen Generation größer und schwerer?

Nachgerechnet

Doch lassen wir uns einmal auf die Argumentation von Diess ein. Wir müssten also erst mal einen eHyprid Tucan kaufen. Die Anschaffungskosten belaufen sich aktuell auf rund 30.000 Euro. Diese 30.000 Euro bewege ich jetzt im Schnitt nur zur Arbeit hin und zurück circa 100 km am Tag. Dann fahre ich vollelektrisch, brauche also keinen Sprit und der Strom kostet relativ wenig für diese 2 x 50 km. Also erst mal gut. Ein vollkommen logisches Argument, um mir den netten Tiguan zu kaufen und stilecht zur Arbeit zu fahren. Für den Urlaub habe ich dann den Reservewagen mit Verbrennungsmotor, den ich mir auch erst mal kaufen muss. Alles ganz logisch.

Oder? Für 5.000 Euro bekommt ihr ein E-Lastenrad, dass 25km/h fährt. Aber warum nehmen wir nicht gleich den Benz unter den E-Lastenrädern schlechthin: das Rise & Müller für 6.500 Euro. Es bringt euch bei einem Arbeitsweg von 8 bis 16 km (das ist der durchschnittliche Arbeitsweg in Deutschland) locker in 30 Minuten zur Arbeit und ihr habt auch noch etwas für eure Gesundheit getan. Ja, einen 50-km-Arbeitsweg damit zurückzulegen, ist nicht wirklich sinnvoll. Der Punkt geht an Sie, Herr Dies. Doch für die vielen anderen, die bis zu 20 km pro Richtung vor sich haben, ist es sinnvoll. 

Die Schlechtwetterkleidung kaufen wir klimaschonend bei Patagonia oder VAUDE. Hier leisten wir uns das Nonplusultra für Sommer und Winter: sagen wir, etwa 1.000 Euro. Damit es noch komfortabler wird, noch ein wenig Schnick-Schnack für noch mal 1.000 Euro. Wir sind bei 8.500 Euro und jetzt habt ihr, wie gesagt, das Nonplusultra-E-Lastenrad mit der Nonplusultra-Ausrüstung. Bleiben mindestens 21.000 Euro für die Fahrt (also den Weg) in den Urlaub oder um bei Schlechtwetter mit dem Taxi statt mit dem Rad zur Arbeit zu fahren, das 2.-Klasse-Jahresticket der Deutschen Bahn ist auch noch drin und auch das Jahresticket für beispielsweise den Rhein-Main-Verkehrsverbund.

Wo sind die Tesla-Vergleichsmodelle?

Wie ich finde, wird Diess’ Argument noch absurder, wenn ihr es einmal anders seht. Da baut ein Konzern ein Auto im Bewusstsein, dass das entsprechende Kundensegment im Durchschnitt maximal 100 km am Tag fährt. Dann verkauft er euch diese minimale Reichweite als große Innovation und auch noch als klimaneutraler, weil sie kleiner als die eines Teslas sei. Das kenne ich doch von wo anders: Die Reichweite eine E-Bikes wird mir bei einem Auto als Innovation verkauft, weil ich eh nicht mehr brauche. Muss ich den Tiguan nicht mit den Möglichkeiten eines ähnlichen Autos vergleichen?

Vergleichsmodelle gibt es einige. Aber schauen wir auf den Wettbewerber Nummer 1: Tesla. Wo ist denn nun das wirkliche Vergleichsmodell zu Tesla? Wo ist das VW-Modell, das vollelektrisch mit dem Tesla Model 3 (in der Basis-Version mit 450 km Reichweite, mit einer Beschleunigung von 0 auf 100 km in 5,6 Sekunden und einer Spitzengeschwindigkeit von 225 km/h) für 46.100 Euro (in Österreich) mithalten kann? Wenn ihr 15.000 Euro mehr ausgebt, dann fährt der Tesla 567 km mit 261km/h und einer Beschleunigung von 3,3 Sekunden. Dieser Wagen kann es mit einem Sportwagen mit Verbrennungsmotor (der in der Basisausstattung gut und gerne 100.000 Euro kosten kann und nur an Servicekosten im Jahr locker 2.000 Euro verschlingt) locker aufnehmen, und fährt den meisten Sportwagen an der Ampel sicher weg. In Österreich und einer gesetzlichen Höchstgeschwindigkeit von 130km/h ist euer Tesla vom Sportwagen dann auch nicht mehr einzuholen.

Aber Spaß beiseite. Wirtschaftlicher ist der Sportwagen mit dem Verbrennungsmotor gegenüber dem Tesla sicher nicht. Da ihr den Sportwagen ja auch nur 50 km bis 100 km am Tag fahrt, bezahlt ihr für ein möglicherweise cooleres Image 50.000 Euro mehr und nehmt Einbußen beim Komfort in Kauf. Ich hatte einmal ein sportliches Cabrio. Damit musste ich auch alle 300 km an die Tankstelle, wenn ich schneller auf deutschen Autobahnen unterwegs war. Die Umwelt- und Lärmbelastung nicht zu vergessen. Telefonieren ist bei diesem Tempo in dem Wagen nicht drin. Die Elektronik ist heute sicher besser als damals. Der Verkäufer begründete die schlechte Boardelektronik damit, dass man ja einen Sportwagen wolle, der müsse schon puristischer sein. Im Tesla habt ihr einen Vollbildschirm mit Goolge Maps, Spotify und Netflix.

Das E-Auto kommt. Punkt.

Auf meinem 16-km-Weg zur Arbeit auf meinem Luxusklapprad, C02-neutral, blutdrucksenkend und kalorienverbrennend, kam mit heute noch ein anderer Gedanke. VW hat 2021 seinen Vorstandschef Diess sagen lassen müssen: Der Konzern hätte vor 5 Jahren prognostiziert, dass er 2020 210.000 E-Autos verkaufen werde und genauso sei es gekommen (Plan also erfüllt). Stattdessen hätte VW vor fünf Jahren alle Kraft auf die E-Autos werfen können. Dann hätte es 2020 vielleicht schon 2,5 Millionen E-Autos verkauft. Der größte Automobilkonzern der Welt hätte Vorbild sein können, statt hinterherzulaufen. 

Doch bei aller Kritik: Es ist zu begrüßen, dass Diess klare Worte spricht: Das E-Auto kommt und diese Entscheidung ist gefallen. Alle anderen Antriebsstränge seien zwar nicht tot, werden aber reduziert produziert. Auch damit hat er wahrscheinlich Recht: In Ländern, die selbst noch Jahrzehnte brauchen werden, bis sie klimaneutral Strom erzeugen (die also noch nicht genügend Windkraft oder Solarenergie zubauen können), ist das E-Auto nicht sinnvoll. Denn erst Kohle zu verbrennen, um dann Strom für ein E-Auto zu erzeugen, ist aus Sicht der CO2-Reduktion absolut nicht sinnvoll. Das ist im Übrigen das einzige Argument, das ich bisher gehört habe, das tatsächlich dafür spricht, weiterhin Verbrenner zu bauen. 

Es sei denn, wir als Exportnation von Industrieanlagen würden alles daran setzen, um weltweit Solarstromanlagen und Windturbinen zu bauen. Wir würden also nicht nur an den E-Autos Geld verdienen, sondern auch an der Energie-Infrastruktur und Stromerzeugung, die diese Autos brauchen. Damit würden wir weltweit massiv die CO2-Emissionen reduzieren und unsere heimische Wirtschaft stärken. Am Ende stehen Wohlstand und Wirtschaftswachstum.

Wenn ich VW-Vorstand wäre: Ich würde mit zwei bis drei Milliarden meines Profits aus 2020 ins Energieerzeugungsgeschäft einsteigen. Mit meinen wahrscheinlich vorhanden Kontakten in alle Regierungen der Welt könnte ich bestimmt überall Windparks bauen. Hätte VW diese Strategie vor fünf Jahren verfolgt, also alle Kraft in den Ausbau der E-Mobilität gesteckt, dann wäre der sehr einflussreiche Konzern zum Motor der Energiewende geworden und hätte sich an die Spitze der Klimabewegung setzen können. VW würde die solargetriebene Wirtschaft mitgestalten.

Titelbild: Pexels License, Taras Makarenko