Ich gehe mit meinem Kind um, als wäre es mein Freund

Kennt ihr das: Kleine Kinder wehren sich, wenn sie beim Essen ruhig sitzen sollen, essen sollen, was ihnen die Eltern auftischen und dann auch noch so tun, als würde es ihnen schmecken. Sie reagieren mit Weinen, Wut, Tobsuchtsanfällen. Eltern erkundigen sich kopfschüttelnd bei Freunden und Bekannten, was man da tun könne. Das Kind ist einfach nicht brav. Gelingt es dem Kind nicht, sich im Laufe der nächsten Jahre zu fügen, wird es irgendwann mit Ritalin ruhig gestellt.

Kinder mit Würde behandeln

Mir hat das nie eingeleuchtet. Warum soll ein Kind nicht mit dem gleichen Respekt und der gleichen Würde behandelt werden, die ich anderen Menschen zuteil werden lasse? Warum müssen Kinder das tun, was wir von ihnen wollen? Warum muss ich mich durchsetzen, anstatt eine Lösung zu finden, die für beide Seiten okay ist?

Und dann gibt es da den ganz normalen Alltag, in dem es aus stressigen Situationen heraus zu Konflikten kommt. Schnell sind alle Überzeugungen über den Haufen geworfen und man setzt sich doch gegen den Willen des Kindes durch, oder? Ja klar, das passiert, weil die meisten von uns als Kinder ebenfalls so behandelt wurden, als hätten wir nichts zu sagen gehabt, als wären wir nur zu bändigen gewesen, wenn sich unsere Eltern durchsetzten. Doch wir Großen haben einen Verstand, den könnten wir einsetzen und mal nachschauen, was in den jeweiligen Situationen wirklich abläuft und ob es nicht eine Alternative gibt. Wir können auf diese Art möglicherweise verhindern, dass wir überhaupt in die Situation kommen, weil wir gar keinen Druck gegenüber unserem Kind aufbauen müssen. Nicht weil wir es tun, weil man so nicht mit Kindern umgeht. Oder weil wir verstanden haben, dass Gerald Hüther Recht damit hat, dass wir Kinder nie als Objekte sehen dürfen (hat er, aber das hilft mir ja im Alltag erst mal nicht). Vielleicht gibt es einen Weg zu verstehen, dass wir loslassen können, dass wir dem Kind möglicherweise tatsächlich die Entscheidungen für viele viele Dinge überlassen können.

Jackenkampf muss nicht sein

Ein Beispiel, an dem ich das deutlich machen möchte: Winter, morgens, es ist kalt. Viele kleine Kinder im Alter zwischen 1 1/2 und 3 wollen, wenn sie morgens in den Kindergarten müssen oder wenn sie überhaupt rausgehen sollen oder wollen, nicht das anziehen, was sie anziehen sollen. Meist geht es in dieser Jahreszeit um die Jackenfrage, die festen Schuhe und die Mütze. Da gibt es dann oft Geschrei und viele Minuten des Weinens. Das Kind will eine andere Jacke oder eine andere Mütze anziehen. Oder gar keine.

Schauen wir uns die Situation doch mal von außen an und analysieren wir mal die Standpunkte: Wir als Erwachsene gehen raus in die Kälte und frieren. Wir sind den ganzen Morgen in der Wohnung beim Frühstück gesessen, haben uns dann gemächlich oder gestresst fertig gemacht. Dabei haben wir Großen uns so gut wie nicht bewegt. Die Wohnung war wohlig warm und diese Wärme wollen wir mitnehmen. Also ziehen wir uns den tollen Mantel an, vielleicht einen tollen Schal, weil es gut aussieht, und denken nun, dass unser Kind auch einen dicken Mantel anziehen muss. Denn draußen ist es ja kalt.

Verlassen wir diese Szene und springen ganz kurz mal in eine andere Situation: Seid ihr schon einmal nach einem ein- oder zweistündigen Fitnessprogramm nach dem Duschen gehetzt aus dem Fitnessstudio im Winter zu eurem Auto gegangen? Draußen ist es es super kalt? Doch euch ist noch so warm, dass ihr bis zum Auto eure Jacke nicht anzieht? Selbst im Auto ist es anfangs nicht nötig, die Heizung aufzudrehen. Ihr seid so aufgeheizt, ihr könntet im luftigen Sommerkleidchen rausgehen und es wäre nicht problematisch.

Kehren wir nun zu unserer morgendlichen Szene zurück. Unser kleiner Zwerg hat sich bis zum Moment des Mantelanziehens bewegt. Den ganzen Morgen, seit es aufgestanden ist, hat es mit Hüpfen, schnellen Sprints durch die Wohnung und zig Kniebeugen (zählt mal, das sind echt viele) verbracht. Es hat sich an Schränken hochgezogen (Pull-ups), auf den Zehenspitzen gestanden (der Morgengruß) und Teddies oder Puppen, die circa 10 bis 20 Prozent des Körpergewichts des Kindes ausmachen, durch die Wohnung gehievt (Farmerswalk und Deadlift).

Dabei war es den ganzen Morgen in einem aufgeheizten Raum, in Pampers, die ziemlich gut isolieren, und Hosen und vielleicht einem leichten Pulli unterwegs. Es hat also in voller Montur bei mehr als 20 Grad seinen ununterbrochenen Workout durchgezogen. Jetzt soll es rausgehen, es freut sich, voller Elan rennt es zum Kinderkleiderhaken. Aber es wird nicht lange draußen sein. Es geht eh nur bis nur zum Auto oder vielleicht fünf oder zehn Minuten zum Kindergarten im Kinderwagen sitzend, der nicht im Freien gestanden hat, sondern selbst Zimmertemperatur hat und vielleicht noch mit einem dicken Fellsack isoliert ist. Wenn es später vielleicht neben dem Kinderwagen hergeht, dann muss es – verglichen mit uns – im Stechschritt gehen. Wieder wird der Motor der Körperwärme hochgefahren. Ich finde, ein Kind hat allen Grund der Welt, die dicke Jacke nicht anzuziehen — und Kinder erinnern sich natürlich an gestern. Sie wissen, wie warm das wird.

Kinder sind nicht doof — sie passen selbst auf sich auf. Sie wissen, es ist ihnen warm oder kalt. Doch wir gehen einfach davon aus, dass wir es besser wissen. Wir behandeln sie einfach nicht mit dem nötigen Respekt, wenn wir sie „zwingen“ Jacken anzuziehen. Wir behandeln sie in den allermeisten Situationen nicht wie unsere Freunde. Denen würden wir nie unseren Willen aufzwingen. Ihnen würden wir in die Jacken helfen, die sie anziehen wollen, denen würden wir zum Frühstück anbieten, was ihnen schmeckt, und ihnen würden wir zuhören, wenn sie etwas zu sagen haben.

Gibt es Situationen, die kleine Kinder noch nicht einschätzen können? Ja! Gibt es ab und zu die Notwendigkeit, sich über den Willen des Kindes hinwegzusetzen. Sicher! Immer dann, wenn wir auf es wirklich aufpassen müssen, wenn es Dinge gibt, die unser Zwerg tatsächlich nicht einschätzen kann — oder wir es führen statt erziehen.

Doch meine Erfahrungen und viele viele hundert Tage des Beobachtens und stundenlanger Reflexionen über viele viele Monate hinweg sagen mir, dass wir uns als Eltern und Pädagogen, die in den Kindergärten tolle Arbeit leisten, viel viel seltener durchsetzen müssten. Nehmen wir unsere Kinder ernst. Lassen wir ihnen ihren Willen in der Annahme, dass sie es viel öfter besser wissen als wir Erwachsenen. Viel öfter, als wir es uns vorstellen können.

Stellen wir uns doch einfach vor, sie wären unsere Freunde. Verändern wir unsere Haltung zu ihnen und das morgendliche Anziehen wird so viel entspannter.

Ein Papa.

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